Polyphone Gesänge, das TARA Gebirge und eine Pilgerreise
Im November und Dezember 2023 bin ich durch Unterstützung des Auslandsstipendiums vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft nach Serbien gereist, um traditionelle serbische Gesänge zu erlernen. Dabei interessierte mich nicht nur die Musik als solche, sondern auch die Beziehung zwischen Menschen und Natur, welche sich in ihr widerspiegelt. Ich verbrachte insgesamt vier Wochen in Belgrad, wo ich Gesangstunden bei Svetlana Spaic und Jelena Jovanovic nahm sowie zwei Wochen in den Bergen des Tara Nationalparks, um die neu erworbenen Erkenntnisse in meine künstlerische Praxis einfließen zu lassen und um meinen eigenen künstlerischen Dialog mit der Natur zu vertiefen. Im Mai und Juni diesen Jahres reiste ich dann nach St Germans in Cornwall, um von dort zum St Michaels Mount (den Cornish Celtic Way) zu pilgern. Die Verbindung zwischen der Bewegung durch die Landschaft (sowie die konstante Nähe zu ihr) und Gesang standen hierbei im Fokus. Der Pilgerweg beschreibt in der heimischen Kultur selbst eine sogenannte song line.
Die traditionelle oder Folk Musik Nord- und Osteuropas faszinieren mich schon seit vielen Jahren. Eine Vielzahl der Konzerte, die mich der traditionellen Musik des Balkans näher brachten, ermöglichte das Kulturformat AlbaKultur, geleitet von Birgit Ellinghaus, welche MusikerInnen aus aller Welt ganzjährig nach NRW einlädt und ihre Aufenthalte organisiert. Zu meiner Idee angeregt wurde ich zudem durch einen Vortrag der Künstlerin Mariana Sadovska, welche traditionelle ukrainische Musik seit vielen Jahren interpretiert. In ihrem Vortrag erwähnte sie den Unterschied zwischen Gesängen, insbesondere bezüglich der Art des Stimmeinsatzes, aus stark bewaldeten Gebieten im Vergleich zu freiflächigeren (Agrar-)Landschaften der Ukraine. Diese Information faszinierte mich enorm und in den folgenden Monaten und Projekten begleitete mich die Frage, auf welche Arten und Weisen Musik, die in direktem Kontakt zur Natur entsteht, Ausdruck dieser ist und ebenso ein Spiegel der menschlichen Beziehung und des Dialogs mit der Selben. Die Idee erwuchs in mir, die Verbindung zwischen Natur und Gesang sowohl in meiner künstlerischen Praxis als auch als musikalisches und kulturelles Phänomen genauer zu erforschen und verstehen zu lernen.
Als transdisziplinäre Künstlerin beschäftige ich mich intensiv damit, lyrische, narrative und musikalische bzw. gesangliche Inhalte im konstanten Dialog mit Natur zu entwickeln. Meine Arbeiten sind von Selbstversuchen in und mit der Natur durchzogen, wobei ich wiederholt auf verschiedenste Grenzen meiner eigenen kulturellen Prägung stoße. Die Geschichte verschiedener europäischer Kulturen und deren Verhältnisse zur Natur begleiten mich dabei. Es ist ein fortlaufender Prozess, durch welchen ich die Lebendigkeit der Natur und somit Letztere als eigenständige Entität künstlerisch zu repräsentieren, sowie unsere eigene Beziehung zu ihr zu reflektieren und künstlerisch zu verarbeiten suche. Das Auslandsstipendium stellte eine besondere Möglichkeit dar, auf diesem Weg maßgeblich weiterzukommen. Nicht zuletzt bedeutet es mir viel, traditionelle Musik mit am Leben zu halten, indem ich mich selbst intensiv mit ihr auseinandersetze und ihre Lieder verinnerliche und in die Gegenwart trage.
Während meiner Zeit in Belgrad habe ich verschiedenste polyphone Lieder erlernt und bin in die geschichtlichen bzw. ethnomusikalischen Hintergründe der serbischen Musiktradition eingetaucht. Die Lieder haben eine besondere, oft auf Obertöne fokussierte Technik, wodurch ich vokaltechnisch viel Neues gelernt habe. Meine Lehrerin Svetlana Spaic hat einen besonderen Hintergrund, da sie schon früh begann, durch Serbien und die umliegenden Länder wie Bosnien und Kroatien zu reisen, um in den Dörfern die traditionellen Lieder zu erlernen und zu dokumentieren. Jelena Jovanovic hat mir viel in Hinblick auf die ethnomusikalischen Hintergründe beigebracht, wie zum Beispiele Unterschiede zwischen den einzelnen Bergregionen und ihren musikalischen Traditionen. Sie ist selbst Wissenschaftlerin am ethnomusikalischen Institut an der Universität Belgrad. Meine Zeit in den Bergen des Tara Gebirges war in vielerlei Hinsicht besonders. Der Wintereinbruch dort war ein außergewöhnliches Erlebnis und intensivierte meine Erfahrung in der Natur und der Stille, die sie mir bescherte. In der kleinen Hütte konnte ich ungestört die zuvor erlernten Musikstücke üben. Gleichzeitig war die Wildnis dieser Gegend ein wahres Geschenk in Bezug auf meinen künstlerischen Dialog mit der Landschaft und die Vertiefung und Erforschung dessen.
Während meiner Pilgerreise war die Nähe zum Ozean überaus spannend im Vergleich zu den Bergen und Wäldern des Tara Gebirges. Zudem habe ich die Erkenntnis erlangt, dass ein unmittelbarer kreativer Dialog mit Landschaft und Natur, inklusive der Entwicklung konkreter Inhalte, Zeit und Nähe zu einem bestimmten Ort bzw. einer bestimmten Region erfordert. Das Wandern stellt im Gegenzug eine Art Rausch dar, dessen Effekt ich u.a. versucht habe in Schriftfragmenten festzuhalten.
Was mich bzgl. beider Länder noch immer beschäftigt, ist die Art und Weise, wie insbesondere traditionelle Volksmusik über viele Jahrhunderte entstanden ist und weitergegeben wurde. Vor allem die Nähe zur Natur und die, oftmals auch rituelle Beziehung zu ihr, sind aus der zeitgenössischen Perspektive nicht mehr vorhanden und daher schwer nachzuvollziehen. Als Künstlerin interessiert mich, wie ich nichtsdestotrotz aus einer tiefgründigen Beziehung zur Natur diese alten Lieder singen sowie selbst Kunst schaffen kann. Letztendlich geht es mir auch um die eigentlichen Impulse und Beweggründe zu singen bzw. zu komponieren. So beschäftigte ich mich im Tara Gebirge viel mit einem Kompositionsprozess, der unmittelbar in der Natur oder in direkter Nähe zu ihr verläuft und welcher oftmals auch für sie entsteht.
Zudem habe ich viel über die Wildnis, auch was diese eigentlich bezeichnet, und unsere Beziehung zu ihr nachgedacht und geschrieben. Mein Bedürfnis, diese zu schützen und gleichzeitig unsere, meiner Meinung nach sehr wichtige und intrinsische Beziehung zu ihr möchte ich durch meine Kunst stärken und im besten Fall zum Schutz der Natur und ihrer Ökosysteme beitragen.